(Eine Gute Nacht-Geschichte für Wartenburg)
Anfang Januar 1818 in London:
Mit einem lauten Knall schlug Verleger Smith ein frisch gedrucktes Buch auf seinen Empire-Sekretär. Seine Augen strahlten und ein Freudenschrei kam über seine Lippen.
„Endlich geschafft! Was für ein Wahnsinn!“
Der Titel ungewohnt: Frankenstein oder Der moderne Prometheus.
Der Autor, besser die Autorin: Mary Wollstonecraft Shelley(1797-1851).
Eine Frau? Und erst 21 Lenze soll sie zählen? Gehen wir vier Jahre zurück.
Die 17-jährige Mary verliebt sich hoffnungslos in den fünf Jahre älteren, aber verheirateten, romantischen Dichter Percy Bysshe Shelley (1792-1822).
Nach den Wirren der Befreiungskriege folgt Mary ihm auf eine Reise auf den europäischen Kontinent, heiratet ihn 1816 und mit Freunden verbringen sie den Sommer in der Schweiz.
Das war ein Jahr nach dem endgültigen Sieg über Napoleon, der inzwischen auf der Insel Sankt Helena „schmorte“. Die Festlegungen der Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815 setzten sich langsam durch in Europa. Wartenburg gehörte inzwischen zum Königreich Preußen und die Universität von Wittenberg war nach Halle verlegt worden.
Das alles interessiert den Freundeskreis in der Villa Diodati in Cologny am linken Genferseeufer überhaupt nicht.
Neben dem Liebespaar ist es Marys ältere Halbschwester Fanny Imlay (1794-1816), aus einer ersten Ehe ihrer Mutter. Dabei sind auch der berühmte Lord Byron (1788-1824), dessen Geliebte Claire Clairmont (1798-1879), eine weitere Halbschwester Marys aus einer späteren Ehe ihres Vaters und Byrons Hausarzt John William Polidori (1795-1821). Später kommt der gemeinsame, fast väterliche Freund für alle, Matthew Gregory Lewis (1775-1818) dazu, der Verfasser des Schauerromans Der Mönch(1796).
Das Werk wurde später die Vorlage für Die Elixiere des Teufels(1814)des deutschen Romatikers E.T.A. Hoffmanns (1776-1822). Dieses und die Nachtstücke(1816) von ihm, aber auch Ludwig Tiecks (1773-1853) Das Märchen vom blonde Eckbert(1797) waren im Gepäck.
Der Sommer 1816 ist verregnet und ein Ende nicht absehbar. Das unheimliche Naturereignis – das Jahr ohne Sommer – versetzt sie in eine düstere Stimmung. Gut, dass sie in Ihren Reisetaschen einen großen Fundus an Schauerliteratur mitgebracht hatten. Aus dem anfangs gedachten Vorlesewettstreit wird auf Vorschlag von Lord Byron ein Schreibwettkampf um die beste Schauergeschichte.
Hier sollte man wissen, dass Polidori nicht nur über anatomische Kenntnisse verfügte, sondern auch Verehrer des Naturphilsophen und Dichter Erasmus Darwin (1731-1802) war, ein Anhänger der galvanischen Experimente. Er ist der Großvater des später berühmteren Charles Darwin.
Die jüngeren Leute machen sich eifrig ans Werk. Vor allem der übermütigen Mary sprudeln nur so die Gedanken aufs Papier. Ist es Vererbung?
Ihr Elternhaus war einst ein kulturelles Zentrum gewesen. Ihr Vater, William Godwin (1756-1836), hatte zahlreiche sozialkritische Schriften verfasst. Ihre Mutter, Mary Wollstonecraft (1759-1797), veröffentlichte 1792 das erste bedeutende Manifest der europäischen Frauenbewegung Rettung der Rechte des Weibes. Leider verstarb sie wenige Tage nach der Geburt der Tochter.
Dann ist es soweit. In einer mit Blitzen durchzogenen Nacht, bei flackerndem Kerzenschein, werden die Früchte ihrer literarischen Arbeit vorgetragen. Eine unheimliche Stille erfasst das Anwesen am See, als Mary mit leiser Stimme ihre Geschichte beginnt und die Geburt des Monsters beschreibt:
“Der Regen klopfte in trostlosem Gleichmaß gegen die Scheiben … als ich in dem Geflacker der schon erlöschenden Flamme das audruckslose gelbliche Auge der Kreatur sich auftun sah. Ein schwerer Atemzug hob ihre Brust, und ein krampfhaftes Zucken durchlief ihre Glieder.”
Hier möchte ich kurz auf den Kultfilm Gothic(1986) hinweisen. Faszinierend, wie die geheimnisvolle Stimmung im Haus, natürlich filmisch überdreht, wie das Fantastische, einen packt. Ein Muss aber auch der Klassikerstreifen Frankenstein(1931)mit dem hervorragenden Boris Karloff(1887-1969) in der Rolle des Monsters.
Zurück zu den Herausforderern des Übersinnlichen. Auch Polidori gelingt der große Wurf. Seine Geschichte wird 1819 als Der Vampyr veröffentlicht. Percys Schrift erscheint 1821 unter dem Titel Der entfesselte Prometheus.
Aber die Wirklichkeit hatte sie eingeholt. Den Beteiligten traf es Schlag auf Schlag.
Im Frühjahr 1818 stirbt Lewis an Gelbfieber während einer Seereise. Aus der Liebesbeziehung von Mary und Percy gehen vier Kinder hervor., drei erleben das Ende des Jahres 1819 nicht mehr. Die Halbschwester Fanny starb schon im Herbst 1816 durch Suizid. Polidori endet unter ungeklärten Umständen 1821. Ein Jahr später verunglückt Percy beim Segeln im Mittelmeer. Das Kind von Claire und Lord Byron stirbt im gleichen Jahr. Er selbst eilt in den griechischen Unabhängigkeits-kampf und erliegt 1824 einer tückischen Krankheit.
Gab es da einen Fluch? Nicht ganz!
Claire wird eine anerkannte Schriftstellerin für Reiseliteratur. Marys Gesamtschaffen ist zwar groß, aber was von ihr bleibt ist ein Werk der Weltliteratur. Später wird man wertschätzen:
Das faszinierende am Stoff, es werden “...die biologischen Qualen, die existenziellen Ängste und die religiösen Nöte des menschlichen Lebens in konzentrierter Form veranschaulicht.”
Anfang Januar 1818 in Wartenburg:
Den Knall, mit dem Buch auf den Tisch, hörte man natürlich hier nicht. Es gab andere religiöse Wichtigkeiten. Pfarrer Martin Gottlob Rüsser (1761-1831) lobte zwei Monate vorher in der Ortskirche die Bedeutung „… der Vereinigung er beiden bis dahin getrennten protestantischen, der reformierten und lutherischen, zu Einer evangelischen Kirche in Preußen…“, wie Gustav Wernecke (1842-1930) in Wartenburg einst und jetzt(1913) bezeugt.
An anderer Stelle bemerkt er labidar zum Übergang in die preußische Verwaltung: “Aber auf dem Lande hat der Wechsel kaum großen Eindruck gemacht, die bäuerliche Bevölkerung wurde so gut preußisch, wie sie sächsisch gewesen war.“
Ob man sich 1818 in Wartenburg zum 5. Jahrestag der Schlacht eigentlich Gedanken gemacht hatte? Für einen feierlichen Reformationstag sicherlich, denn der war 150 Jahre vorher durch kursächsischen Erlass 1668 festgelegt worden.
Da erst 1912 eine deutsche Erstausgabe erschien, wäre es für mich literarisch interessant, wann das erste Frankensteinbuch nach Wartenburg kam und ob es überhaupt Exemplare im Ort gibt?
(Wolfgang Kunze)
Quellen:
Illustrierte Geschichte der Weltliteratur, Köln 1991
Das Buch der 1000 Bücher, F.A. Brockhaus, Mannheim 2005
PS: (für Kenner)
1818 wurde ein deutscher Sohn geboren, der 30 Jahre später, auch beeindruckt von William Godwin’s politischem und ökonomischen Denken, zusammen mit seinem Freund Friedrich, ein Manifest veröffentlichte, das mit den Worten beginn!:
„Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst …“
Titelbild: Mary Shelley
2. Bild Percy Shelley
3. Bild Fanny Imlay
4. Bild Lord Byron
5. Bild Clair Clairmont
6. Bild John Polidori
7. Bild Matthew Lewis
8. Bild 1. dt. Ausgabe
9. Bild Gothic 1986
10. Bild Frankenstein Film